BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1974/22 – 9. April 2025
Die Verfassungsbeschwerde betraf die Frage, ob die Würdigung, der Geschädigte habe einen Vermögensnachteil erlitten, gegen das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG verstößt.
Das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 14. Januar 2022 - 1 Ks 810 Js 2037/21 - und der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 21. September 2022 - 1 StR 178/22 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes, soweit das Landgericht Mannheim den Beschwerdeführer wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung verurteilt und der Bundesgerichtshof seine dagegen gerichtete Revision verworfen hat. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 21. September 2022 - 1 StR 178/22 - wird, soweit er den Beschwerdeführer betrifft, aufgehoben.
Aus den Gründen
(a) Der Verlust einer bloßen ungesicherten Aussicht eines Geschäftsabschlusses kann grundsätzlich noch nicht als Vermögensschaden angesehen werden. Erwerbs- und Gewinnaussichten können nur ausnahmsweise Vermögensbestandteil sein, wenn sie so verdichtet sind, dass ihnen der Rechtsverkehr bereits einen wirtschaftlichen Wert beimisst, weil sie mit einiger Wahrscheinlichkeit einen Vermögenszuwachs erwarten lassen (vgl. BGH, Urteil vom 2. November 2011 - 2 StR 375/11 -, juris, Rn. 16 m.w.N.; Sander, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 253 Rn. 24; Vogel/Burchard, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2023, § 253 Rn. 30; Wittig, in: BeckOK StGB, § 253 Rn. 14 <Feb. 2025>). Wie der Bundesgerichtshof bereits entschieden hat, können daher auch Erwerbs- und Gewinnaussichten, wie sie mit dem Betrieb einer Gaststätte verbunden sein können, nur ausnahmsweise als Vermögensbestandteil angesehen werden (vgl. BGH, Urteil vom 4. Oktober 2017 - 2 StR 260/17 -, juris, Rn. 14; zust. Schilling, NStZ 2018, S. 213 <214 f.>; anders wohl noch BGH, Urteil vom 16. August 1995 - 2 StR 303/95 -, juris, Rn. 4).
(b) Hierzu hat das Landgericht lediglich festgestellt, dass der Geschädigte mit dem Mitangeklagten R. ursprünglich vereinbart hatte, erwartete Gewinne hälftig zu teilen, und dass der Geschädigte für seine Arbeitsleistung im Tattoostudio – zusätzlich zu der Gewinnbeteiligung – ein Gehalt bekommen haben soll. Später soll der Geschädigte dem Mitangeklagten R. dagegen mitgeteilt haben, er werde an sich und den Mitangeklagten R. jeweils 1.200 Euro pro Monat auszahlen und darüber hinausgehende Gewinne für sich selbst oder das Studio verwenden, woraufhin er die Zahlungen an den Mitangeklagten R. beziehungsweise dessen Lebensgefährtin gekürzt habe. Bezogen auf die Aussage des Mitangeklagten R., er habe über „verschiedene Freunde“ erfahren, dass der Geschädigte mit dem Tattoostudio gute Geschäfte mache, sodass ihm klargeworden sei, dass der Geschädigte in erheblichem Maße in die eigene Tasche gearbeitet habe, hat das Landgericht selbst angenommen, diese Vorwürfe seien pauschal geblieben, Namen, konkrete Sachverhalte oder Beträge seien nicht genannt worden. Ob und in welchem Umfang – zumal nach dem hier nicht näher beschriebenen Vorstellungsbild des Beschwerdeführers – auch künftig Einnahmen des Geschädigten aus dem Betrieb des Tattoostudios zu erwarten gewesen wären, bleibt damit offen. Eine ausreichende Beschreibung und Bezifferung eines von dem Beschwerdeführer zumindest für möglich gehaltenen und billigend in Kauf genommenen Vermögensschadens ist damit auch hierin nicht zu erkennen. Somit kann letztlich dahinstehen, ob – wie der Beschwerdeführer meint – bereits der Umstand, dass das Tattoostudio zur Tatzeit im Hinblick auf Corona-Schutzmaßnahmen geschlossen war, einer Verdichtung einer entsprechenden Erwerbs- und Gewinnaussicht entgegenstünde.
(3) Schließlich ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen auch unter dem Gesichtspunkt des Entzuges bereits getätigter Investitionen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 4. Oktober 2017 - 2 StR 260/17 -, juris, Rn. 15) ein von dem Beschwerdeführer zumindest für möglich gehaltener und billigend in Kauf genommener Vermögensschaden nicht zu erkennen. Zwar hat das Landgericht – entgegen der ebenfalls wiedergegebenen Aussage des Mitangeklagten R., wonach dieser den überwiegenden Teil der Kosten zur Einrichtung des Tattoostudios übernommen habe – festgestellt, dass der Geschädigte bis auf die Kosten des Umbaus der Räumlichkeiten, für die der Mitangeklagte R. aufkam, die Investitionen zur Einrichtung des Tattoostudios selbst übernommen hatte. Feststellungen zum Umfang der von dem Beschwerdeführer für möglich gehaltenen Investitionen des Geschädigten fehlen aber ebenso wie zur Frage, ob die abgenötigte Übergabe des Betriebs des Tattoostudios an den Mitangeklagten R. aus der maßgeblichen Sicht des Beschwerdeführers auch die entschädigungslose Abtretung von (werthaltigen) Rechten des Geschädigten an der Einrichtung des Tattoostudios umfasst hätte.
c) Da der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers ohne nähere Begründung als unbegründet verworfen hat, leidet seine Entscheidung an denselben Mängeln wie das angegriffene Urteil des Landgerichts.
Es ist danach festzustellen, dass das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 14. Januar 2022 und der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 21. September 2022 den Beschwerdeführer in dem im Tenor ausgesprochenen Umfang in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG verletzen (§ 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Der angegriffene Beschluss des Bundesgerichtshofs ist deshalb, soweit er den Beschwerdeführer betrifft, aufzuheben und die Sache an den Bundesgerichtshof zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
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2. Eine Aufhebung des Urteils des Landgerichts durch das Bundesverfassungsgericht ist indes nicht angezeigt. Zwar verletzt – wie gezeigt – auch dieses Urteil den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist im weiteren Verlauf des Verfahrens sicherzustellen, dass eine Verurteilung des Beschwerdeführers wegen eines Erpressungsdelikts ohne die dafür auch aus verfassungsrechtlichen Gründen erforderlichen Feststellungen zum Vermögensnachteil beziehungsweise zum diesbezüglichen Tatentschluss unterbleibt. Hierfür ist es möglicherweise aber nicht erforderlich, das Urteil des Landgerichts, soweit es den Beschwerdeführer betrifft, vollumfänglich, also auch mit allen Feststellungen, aufzuheben. Vielmehr ist zu prüfen, ob das Strafprozessrecht auch den Weg einer den festgestellten Verfassungsverstoß zwar vollständig beseitigenden, insbesondere in Bezug auf die getroffenen Feststellungen aber nur beschränkten Aufhebung des Urteils des Landgerichts eröffnet. Es stellen sich damit Zweifelsfragen darüber, in welchem Umfang der festgestellte Verfassungsverstoß eine Aufhebung der angegriffenen Entscheidung erfordert, die ihre Wurzel nicht im Verfassungs- oder Verfassungsprozessrecht haben, sondern sich gerade aus den Besonderheiten des Strafprozessrechts ergeben. Unter diesen Umständen ist es – ausnahmsweise – gerechtfertigt, allein die Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs aufzuheben und die Sache an diesen zurückzuverweisen, damit dieser im Rahmen der neuen Revisionsentscheidung den Umfang der Aufhebung des landgerichtlichen Urteils näher bestimmen kann, der aus strafprozessrechtlicher Sicht notwendig ist, um den festgestellten Verfassungsverstoß zu beheben (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juli 2022 - 2 BvR 1180/94 -, juris, Rn. 15; ferner BVerfGK 14, 177 <186 f.>).