Einstweilige Anordnung

Verwaltungsgericht Gießen 

Aktenzeichen: 7 L 1577/23.Gl

VERWALTUNGSGERICHT GIESSEN

 

BESCHLUSS

In dem Verwaltungsstreitverfahren

1.      der Frau,

2.      des Herrn,

 

Antragsteller,

 

bevollmächtigt:

zu 1-2: Rechtsanwältin Hanna Henning, Gießener Straße 6 A, 35410 Hungen, - 23!95/HH -

gegen

die Stadt Gießen,

 

Antragsgegnerin,

 

wegen       Kinder- und Jugendhilfe- sowie Jugendförderungsrecht

hat das Verwaltungsgericht Gießen - 7. Kammer - durch

Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Dr. Richterin am Verwaltungsgericht ..

am 3. Juli 2023 beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller vom 30.06.2023 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 27.06.2023 wird wiederhergestellt.

Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

Gründe

Der am 28.06.2023 wörtlich gestellte Antrag,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen die erneute lnobhutnahme des Kindes - Bescheid 1 vom 27.06. 2023 - Widerspruch vom 27.06. 2023 - Bescheid II vom 27.06. 2023 - Widerspruch vom 27.06.2023 und Widerspruch vom 28.06. 2023 (schriftlich) anzuordnen.

hat Erfolg.

Der Antrag ist zulässig, insbesondere gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 2. Alt. Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - statthaft.

Der Antrag ist nach § 88 VwGO zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes dahingehend auszulegen, dass die Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres schriftlichen Widerspruchs vom 30.06.2023 gegen den lnobhutnahmebescheid der Antragsgegnerin vom 27.06.2023 begehren. Der Widerspruch der Antragsteller vom 30.06.2023 gegen den lnhobhutnahmebescheid vom 27.06.2023 richtet sich gegen einen belastenden Verwaltungsakt, der in die Rechtsposition der Antragsteller eingreift. Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die lnobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII wird von den Fallkonstellationen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 2 und 3 VwGO nicht umfasst, die aufschiebende Wirkung entfällt daher auch nicht ausnahms¬weise kraft Gesetzes (vgl. VG München, B.v. 21.12.2020 - M 18 S20.6711 —juris Rn. 22 ff. m.w.N.; Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022. § 42 Rn. 67; Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 100). Der Widerspruch der Antragsteller vom 30.06.2023 entfaltet vorliegend jedoch keine aufschiebende Wirkung. Denn der Antragsgegner hat mit gesondertem Schreiben vom 27.06.2023 gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung angeordnet.

Der nach alledem zulässige Antrag ist auch begründet.

Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die auf-schiebende Wirkung der Klage in den Fällen, in denen wie vorliegend die sofortige Voll-ziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet wurde, ganz oder teilweise wiederherstellen. Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht nach der Überprüfung, ob die Anordnung des Sofortvollzugs den formalen Kriterien des § 80 Abs. 3 VwGO genügt, eine eigene originäre Ermessensentscheidung, in deren Rahmen es zwischen dem Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen hat. Ein solcher Antrag ist begründet, wenn das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem Privatinteresse des Antragstellers, die Vollziehung bis zur Entscheidung über seinen Rechtsbehelf hinauszuschieben, nicht überwiegt. Das ist dann der Fall, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, denn an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann kein vorrangiges öffentliches Interesse bestehen. Umgekehrt ist der Rechtsschutzantrag abzulehnen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig und seine Vollziehung eilbedürftig ist. In allen anderen Fällen entscheidet bei summarischer Beurteilung des Sachverhalts eine Abwägung der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen, die für oder gegen die Dringlichkeit der Vollziehung sprechen, über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (vgl. z.B. Hess. VGH, Beschluss vom 29.05.1985-3 TH 815/85).

Vorliegend entspricht bereits die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nicht den Anforderungen an die Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, sodass die aufschiebende Wirkung des Widerspruches vom 30.06.2023 schon aus diesem Grunde wiederherzustellen ist.

Gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist in den Fällen, in denen die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO den Sofortvollzug anordnet, das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Die schriftliche Begründung soll den Betroffenen in die Lage versetzen, seine Rechte wirksam wahrnehmen und die Erfolgsaussichten seines Rechtsmittels abschätzen zu können. Außerdem soll die Begrün-dungspflicht der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollzugsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes Vollzugsinteresse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert. Daraus folgt, dass die Begründung nicht lediglich formelhaft sein darf, sondern die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen darlegen muss, die die Annahme eines besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses tragen (Schach in: Schoch/Schneider, VwGO § 80 Rn. 245, 247). Der Inhalt der Begründung muss sich zudem auf den konkreten Einzelfall bezie¬hen (vgl. Buchheister in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 80 Rn. 25 m.w.N.; BayVGH, Be¬schluss vom 26.2.2019-9 CS 18.2659—, juris).

Diesen Anforderungen genügt die Begründung der Anordnung des Sofortvollzuges in dem separat versandten Schreiben des Antragsgegners vom 27.06.2023 nicht. Auch unter Berücksichtigung, dass an eine ordnungsgemäße Begründung keine inhaltlich überzogenen Anforderungen gestellt werden dürfen und demnach jede schriftliche Begründung, die zu erkennen gibt, dass die Behörde im konkreten Einzelfall eine sofortige Vollziehung für geboten hält, ausreicht (BayVGH, Beschluss vom 09.11.2020 - 9 CS 20.2005 —juris Rn. 14; Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 80, Rn. 55,), lässt die vorliegende Begründung nicht ansatzweise erkennen, aufgrund welcher Erwägungen die Antragsgegnerin im konkreten Einzelfall vom Erfordernis der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit ausgegangen ist. Vielmehr erschöpft sich die Begründung auf einer Wiedergabe des Gesetzestextes des § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII bzw. auf eine Bezugnahme auf Ausführungen zur Gefährdung des Kindeswohles im lnobhutnahme-bescheid vom selben Tag - die in diesem gar nicht enthalten sind - ohne aber in irgendeiner Weise auf den konkreten Einzelfall der Tochter der Antragsteller Bezug zu nehmen oder näher zu begründen, warum davon ausgegangen wurde, dass die Anordnung des Sofortvollzuges im konkreten Fall erforderlich ist.

Das Schreiben vom 27.06.2023 verweist zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit letztlich einzig und allein darauf, dass für die „individuelle Begründung der Gefährdung des Kindeswohls Ihres Kindes [ ...] auf den Ihnen vorliegenden Bescheid zur lnobhutnahme vom 27.06.2023" verwiesen wird. Der vorliegend in Bezug genommene Inobhutnahmebescheid vom 27.06.2023 enthält jedoch keinerlei Ausführungen zu einer Gefährdung des Kindeswohls, die lnobhutnahme wird darin auf § 42 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII gestützt und einzig damit begründet, dass die Tochter der Antragsteller darum gebeten habe, in der lnobhutnahmegruppe verbleiben zu können. Ausführungen dazu, ob eine Gefahr für das Kindeswohl vorliegt, enthält der Inobhutnahmebescheid vom 27.06.2023 gerade nicht. Insoweit geht der Verweis in der Begründung des Sofortvollzuges auf den Inobhutnahmebescheid vom 27.06.2023 ins Leere, was dem vollständigen Fehlen einer Begründung der Anordnung des Sofortvollzuges gleichkommt.

Die Anordnung des Sofortvollzugs ist damit bereits mangels Begründung i.S.d. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO rechtswidrig und kann deshalb keinen Bestand haben, ohne dass es darauf ankommt, ob in der Sache tatsächlich ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Anordnung besteht. Dem Antrag der Antragsteller war daher stattzugeben und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage wiederherzustellen, § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. HS VwGO.

Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, weist die Kammer darauf hin, dass überdies erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der erfolgten lnobhutnahme bestehen. Dies folgt daraus, dass Zweifel daran bestehen, ob die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 SGB VIII vorliegen. Das Jugendamt ist gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII zwar berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen - zunächst - in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet. Für die Wahrung des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts sorgt der gesetzlich zwingend vorgegebene weitere Verfahrensablauf, der die unverzügliche Einbeziehung der Personensorge- und Erziehungsberechtigten, die weitere Aufklärung des Gefährdungsrisikos und den eventuellen Übergabeanspruch der Personensorge- und Erziehungsberechtigten vorsieht. Der besonderen Bedeutung der Verfahrensregelungen des § 42 SGB VIII im Hinblick auf den Schutz des Elternrechts entspricht es, dass Fehler an dieser Stelle schon zur Rechtswidrigkeit der lnobhutnahme führen (vgl. VG München, Urteil vom - M 18 K 18.1351 -‚ juris, m.w.N.).

Im Falle eines Widerspruchs der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten gegen die lnobhutnahme hat das Jugendamt nach § 42 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen dem Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben, sofern nach Einschätzung des Jugendamtes eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden (Nr. 1) oder eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen (Nr. 2). Die Entscheidung des Jugendamtes, die lrobhutnahme bis zu einer familiengerichtlichen Entscheidung aufrecht zu erhalten, ist danach nur dann rechtmäßig, wenn ohne die lnobhutnahme die Gefahr einer Beeinträchtigung des Wohles des Kindes oder Jugendlichen besteht und die Eltern zu Abwehr dieser Gefährdung nicht bereit oder in der Lage sind (OVG Münster, Beschluss vom 07.02.2022 - 12 A 1402/18 — juris Rn. 100 m.w.N.). Dass nicht geprüft wurde, ob ohne die lnobhutnahme die Gefahr einer Beeinträchtigung des Wohles der Tochter der Antragsteller besteht, ist daraus zu schließen, dass weder der lnobhutnahmebescheid vom 27.06.2023 Ausführungen hierzu enthält. noch sich diese aus den dem Gericht vorliegenden Behördenvorgängen oder dem Vortrag des Antragsgegners im gerichtlichen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 S. 2 VwGO.

 

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