Inobhutnahme von drei kleinen Kindern durch das Jugendamt des Landkreises Gießen schon nach summarischer Prüfung rechtswidrig
Entscheidung
Verwaltungsgericht Gießen vom 14.06. 2022 Aktz.: 7 L 1183/22 Gl
Im Jahr 2020 wurden etwa 45.000 Kinder durch Jugendämter In Obhut genommen. Eine gewaltige Zahl. Wie viele dieser Inobhutnahmen tatsächlich rechtlich
zulässig waren, kann man nicht eruieren. Es dürfte eine erhebliche Grauzone geben. Inobhutnahmen sind, insbesondere wenn diese ohne Vorankündigung von statten gehen, für alle ein an sich unfasslicher
Eingriff. Dieser ist an besondere Anforderungen geknüpft, die sehr oft eher nicht oder nur rudimentär beachtet werden. Der der Entscheidung des VG Gießen zu Grunde liegende Sachverhalt ist zum einen
ein Paradebeispiel dafür wie überaus dilettantisch vorgegangen wird und zum anderen, in welcher in keiner mehr nachvollziehbaren Art und Weise vorgegangen wird. In dem hier vorliegenden Fall geschah
genau dies: ein absurdes Ungenaues, unkritisches Verhalten gepaart mit mangelnder Umsetzung rechtsstaatlicher Standards führte nicht nur zu der rechtswidrigen Inobhutnahme, rechtsstaatlich
fragwürdigem Sorgerechtsentzug und einem Umgangsboykott durch das Jugendamt, sondern dürfte als Resultat auch zu einer Strafbarkeit der Mitarbeiter des Jugendamtes und einer
Schmerzensgeldverpflichtung des Landkreises führen.
Am 08.06. 2022 beginnt der Gau für eine gut bürgerliche Familie, die in einem schönen Haus leben. Betroffen sind die die beiden Zwillinge 5 Jahre und der
Sohn 7 Jahre und selbstverständlich auch die Eltern. Diese werden angerufen, seitens des Jugendamtes des Landkreises Gießen und Ihnen wird gesagt Sie müssten sich spätestens um 13 Uhr bei der
Außenstelle persönlich vorstellen. Warum wird den Eltern nicht mitgeteilt. Auch nicht nach deren Eintreffen, da wird dann zuerst darüber gesprochen, ob es Gewalt gegen die Kinder gebe, und es gäbe
den Verdacht auf Alkoholmissbrauch mindestens seitens des Vaters. Den Eltern wird dann ein Antrag auf Hilfe zur Erziehung etc. mitgegeben, den diese ausfüllen und abgeben sollen. Die Kinder werden
getrennt seitens des Jugendamtes untergebracht, die beiden kleinen Kinder werden also darüber hinaus noch von ihrem Bruder getrennt. Die Kindeseltern sind angesichts der Vorgehensweise des
Jugendamtes des Landkreises Gießen zunächst wie gelähmt. Sie tun dann das einzig Richtige und gebotene, sie suchen nach anwaltlicher Hilfe. Üblicherweise – hier nicht geschehen – muss das Jugendamt
bei einer wie hier schon längerfristig angedachten Inobhutnahme sich stets und sofort um eine familienge-richtliche Entscheidung bemühen oder es muss explizit darlegen, dass eine solche vorher nicht
eingeholt hat werden können.
Solange eine familiengerichtliche Entscheidung der Inobhutname nicht vorliegt besteht die Möglichkeit in einem Eilverfahren bei dem zuständigen
Verwaltungsgericht Klage verbunden mit dem Antrag einzulegen, die aufschiebende Wirkung des Widerspruches wieder herzustellen. Dies empfiehlt sich grundsätzlich dann, wenn eine familiengerichtliche
Entscheidung nicht vorliegt. Die Tendenz vieler Familiengerichte zunächst einem Antrag auf Inobhutnahme einstweilig stattzugeben um den Sachverhalt, was dauern kann in der Hauptsache erst umfassend
zu erforschen, unterfällt oft vielseitiger Kritik.
Ohne Frage ist das tätig werden des Jugendamtes eine wichtige Schutzaufgabe, wenn – und daran scheint es oft zu mangeln, die Mitarbeiter qualifiziert
sind, die Rechtsgrundlagen kennen und Einschätzungen nicht ad hoc erstellt werden, in sich selbst aber bei einer differenzierten Betrachtung keinerlei Eingriffsrechtliche Substanz beinhalten.
Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung den Entzug der elterlichen Sorge als nur dann zulässig bezeichnet, wenn das Kind bei
einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist und zudem, alle Möglichkeiten von einerseits helfenden und andererseits
unterschützenden Maßnahmen auf Herstellung der Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der leiblichen Eltern ausgeschöpft sind. Das sind deutliche und klare Vorgaben deren
Umsetzung seitens der Behörden – aus welchen Gründen auch immer – in Fällen wie diesen nicht gelingt.
Die gravierenden Folgen einer schon nach summarischer Prüfung als rechts- als auch verfassungswidrigen Inobhutnahme sind insbesondere dann zu sehen, wenn
die Kinder nicht nur aus dem beschützten Umfeld herausgerissen, sondern dazu auch noch getrennt untergebracht werden.
Zugleich hat das Jugendamt, den Antrag der Eltern ihre Kinder zumindest sehen zu können erst gar nicht beschieden.
Das Verwaltungsgericht Gießen hat zu der rechtswidrigen Inobhutnahme der Kinder klare Worte gefunden.
Es wird sich zeigen, ob der Landkreis Gießen dies zum Anlass nimmt, die zuständige Sachbearbeiterin aus dem Dienst zu nehmen.
Nachstehend die wesentlichen Gründe der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Gießen vom 14.06. 2022 Aktz.: 7 L 1183/22 Gl:
1. Dass eine solche dringende Gefahr im Zeitpunkt der Inobhutnahme gegeben war, lässt sich nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen.
2. Die vom Jugendamt des Antragsgegners in dem Aktenvermerk über die Zwischenberatung genannten Gründe sind aus Sicht der Kammer nicht geeignet, die
Inobhutnahme der Kinder der Antragsteller zu rechtfertigen.
3. Auch Sicht der Kammer lässt sich aus dem Akteninhalt nicht entnehmen, dass für das Wohl der Kinder die für die Inobhutnahme notwendige dringende Gefahr
bestand. Soweit der Antragsgegner die Reaktion der Antragstellerin in dem mit dem Jugendamt am 8.6.2022 geführten Telefonat zur Begründung heranzieht, ist schon nicht ersichtlich, inwiefern hieraus
eine konkrete und potenzielle Gefährdung der Kinder resultiert, da sich die Reaktion gegen die Mitarbeiter des Jugendamtes richtete.
4. Entsprechendes gilt, soweit auf die „Vorgeschichte" Bezug genommen wird.
5. Die darin im Einzelnen dokumentierten Vorkommnisse lassen aus Sicht der Kammer ebenfalls nicht den Schluss zu, dass das Wohl der Kinder zum Zeitpunkt
der Inobhutnahme dringend gefährdet war.
6. Soweit den Antragstellern zur Last gelegt wird, sie würden ihre Kinder körperlich züchtigen, genügt dies zur Rechtfertigung der Inobhutnahme im
konkreten Fall nicht. Zwar gefährden gesetzlich verbotene Erziehungsmaßnahmen grundsätzlich das Wohl des betroffenen Kindes, auch in solchen Konstellationen kommt eine Inobhutnahme unter dem
Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit aber immer nur als letztes Mittel in Betracht. Dabei ist zunächst zu beachten, dass sich bei den Kindern nach dem Akteninhalt bisher keine konkreten körperlichen
Verletzungen aufgrund von Schlägen feststellen ließen. So hat die Grundschullehrerin bei ihrer Befragung durch das Jugendamt erklärt, sie habe bei dem Jungen zu keinem Zeitpunkt blaue Flecken oder
ähnliches feststellen können. Auch bei konnte dessen Erzieherin - trotz der von diesen geschilderten Schlägen auf den Po am Morgen desselben Tages - keine Verletzungen, insbesondere blaue Flecken,
erkennen.
7. Vorliegend ist nach Auffassung der Kammer gerade nicht davon auszugehen, dass mildere Mittel mit gleicher Zweckeignung nicht zur Verfügung gestanden
hätten, um dem Hilfebedarf in der Familie der Antragsteller zu begegnen. So lässt sich aus dem Aktenvermerk über das Gespräch mit den Antragstellern am 8.6.2022 gerade nicht entnehmen, dass diese per
se nicht zur Mitarbeit bei Maßnahmen des Jugendamtes bereit gewesen waren. Nicht nur erklärten sie bei diesem Gespräch nämlich ihre Bereitschaft, Haarproben abzugeben, auch der Durchführung eines
Clearings stimmten sie zu.
8. Für die Kammer ist weiter nicht ersichtlich, dass sich aufgrund des Eingreifens des Jugendamtes, insbesondere durch das Gespräch mit den Antragstellern
an diesem Tag, die Gefährdungssituation zum Nachteil der Kinder entwickeln könnte, z.B., weil die Antragsteller ihre Kinder nunmehr, etwa aus Rache, erst recht schlagen würden. Für eine solche
Annahme bestehen auf Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Jugendsamtes keine hinreichenden Anhaltspunkte
9. Hinsichtlich des möglichen Alkoholmissbrauchs gibt es zwar durchaus Anhaltspunkte, dass insoweit eine Suchtproblematik bei den Antragstellern vorhanden
ist, dass hieraus aber gerade im Zeitpunkt der Inobhutnahme und danach eine dringende, nicht anders abzuwendende dringende Gefahr für das Wohl der Kinder resultierte, lässt sich den Feststellungen in
den Behördenakten nicht entnehmen.
10. Auch bei einer Gesamtschau ergibt sich nichts anderes; die Schwelle, ab der eine Inobhutnahme zulässig ist, wird auch insoweit noch nicht
erreicht.
11. Überdies hat die Kammer erhebliche Zweifel daran, ob eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig vor der Inobhutnahme eingeholt hätte
werden können. Denn wie sich aus dem Aktenvermerk des Jugendamtes des Antragsgegners vom 08.06.2022 ergibt, hat man bereits nach dem Telefonat mit der Antragstellerin zu 1., in dem man sie und den
Antragsteller zu 2. für 13:00 Uhr in die Behörde einbestellt hat, „entschieden, dass die Kinder durch Inobhutnahme dringend geschützt werden müssen." Vor diesem Hintergrund ist zweifelhaft, ob der
Antragsgegner nicht die Möglichkeit gehabt hat, zu diesem Zeitpunkt einen Antrag bei dem zuständigen Familiengericht zu stellen, um ggfs. im Rahmen des S 157 Abs. 3 FamFG zu erreichen, dass das
Familiengericht einstweilige Anordnungen trifft.